Expedition in die nördlichste Siedlung der Welt

Ende Februar ging Helge Mohn auf Expedition nach Spitzbergen zur Forschungsstation in der nördlichsten Siedlung der Welt, 79 Grad Nord: Ny Ålesund.

Lassen sich mit neuronalen Netzwerken Veränderungen in der Ozonschicht besser verstehen und so das künftige Klima schneller vorhersagen? Um das herauszufinden, reiste Helge Mohn in die Arktis. Wer wie er an der MarDATA promoviert, kann selbst auf Expedition gehen und erforscht die Ozeanwelt zusammen mit Forschenden verschiedenster Disziplinen.

Am Anfang ist der Eisbärenkurs. Was tue ich, wenn ich das 450 Kilo-Tier am Horizont über das Eis traben sehe? (Umdrehen, unauffällig bleiben.) Wie verhalte ich mich, falls es gefährlich näherkommt? (Leuchtrakete abfeuern.) Und im äußersten Notfall? (Schießen.) Dann wird Helge Mohn im Lager des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) neu eingedeckt. Kleidung und Schlafsack, geeignet bis minus 30 Grad, Schneeschuhe, Outdoor-Overalls als vierte Schicht für die Arbeit im eisigen Arktis-Wind.  

Ende Februar geht es auf Expedition nach Spitzbergen, mit dem Leichtflugzeug bis zur Forschungsstation in der nördlichsten Siedlung der Welt, 79 Grad Nord: Ny Ålesund. „Ich war ziemlich aufgeregt“, sagt Mohn. Vier Wochen, 60 Menschen aus 18 Ländern. Alle sechs Stunden misst Mohn mit einem Heliumballon Atmosphärendaten, verarbeitet danach die Daten am Laptop, hilft anderen Teams Fesselballons für Luftmessungen im Eis festzuzurren. Abends gibt es Hockeyspiele und Kartenrunden, samstags ein gemeinsames Dinner in der Forschungsbar und immer wieder Diskussionen: Wie verändert sich das Klima, welche Indizien sehen wir hier? Feldforschung live. „Nie zuvor habe ich so unmittelbar gespürt, wofür ich meine Arbeit mache“, sagt Mohn. „Es war fantastisch“.

Ein neuronales Netz soll mehr über das Klima der Zukunft verraten

Seit 2020 ist Helge Mohn Doktorand an der MarDATA Helmholtz School for Marine Data Science, einer Graduiertenschule mit einem ausgefeilten Studienangebot getragen von GEOMAR (Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung), AWI, der Universität Kiel, der Universität Bremen und der Jacobs-Universität in Bremen. Die School wurde 2019 in Kooperation mit der Helmholtz Information & Data Science Academy (HIDA) auf den Weg gebracht, einer Initiative der Helmholtz Gemeinschaft, unter deren Dach sechs Data Science Schools in ganz Deutschland entstanden sind.

Mit Datenwissenschaften hatte sich Doktorand Helge Mohn schon in seinem Studium beschäftigt: Luft- und Raumfahrttechnik, Schwerpunkt Informatik in Berlin. In seiner Masterarbeit ging er der Frage nach: Lassen sich mit Künstlicher Intelligenz (KI) die Veränderungen der Atmosphäre besser verstehen, um das künftige Klima schneller vorhersagen zu können? Sein Ergebnis: Es geht. Jetzt trainiert Mohn ein neuronales Netz mit komplexen Daten zur Veränderung der Ozonschicht in der Stratosphäre – damit ihm die KI mehr über das Klima der Zukunft verrät. „Dass ich hier an der MarDATA selbst an Expeditionen teilnehmen und einen konkreten Beitrag zur Klimaforschung leisten kann, hat mich sofort überzeugt“, so Mohn.

Arne Biastoch freut das. Genau das war seine Idee: „Die MarDATA will Datenwissenschaftlerinnen- und Datenwissenschaftler mit sehr griffigen, spannenden Themen anziehen“, sagt der Ozeanograph am GEOMAR und Sprecher der School. „Klimaforschung, Unterwasserwelt, Biologie und das Gefühl, Anteil an der Erforschung des Erdsystems zu haben - das ist das Besondere bei uns.“ Dabei ist längst klar, dass die Wissenschaften rund um die Ozeane – von der Ozeanographie über die Meeresbiologie, Meteorologie bis zu den Geowissenschaften – mit den traditionellen Analysemethoden und mathematischen Modellen an ihre Grenzen kommen. Über Satelliten, Schiffsmessungen, autonome Robotersysteme, die frei in Ozean treiben, werden auf der ganzen Welt inzwischen terrabiteweise Daten über die Meere zusammengetragen – vom Salzgehalt, über Eis- und Erdbeben unter Wasser, bis zu Strömungen und Wetterdaten über dem Ozean. Es bedarf neuer Methoden, um sie zu erfassen und effektiv nutzen zu können. „Wir sind sicher: In den Daten stecken viele ungehobene Schätze“, sagt Biastoch. „Dafür brauchen wir Spezialisten, die mit Methoden der Datenwissenschaften diese Daten durchkämmen und so Zusammenhänge, aufdecken, die wir mit traditionellen Methoden nicht erkennen können.“

Wir bauen etwas auf, das es so nirgends auf der Welt gibt

Als die Helmholtz-Gemeinschaft vor vier Jahren ihre Zentren zur Gründung von Graduierten-Schulen an der Schnittstelle von Domänenforschung und Data Science anregte und dafür Fördermittel ausschrieb, war Biastoch daher gleich dabei. „Für uns war das ein völlig neues Feld, aber wir haben die Chance ergriffen.“ Schnell entstand die Idee: Wir bringen alle marinen Wissenschaften, so unterschiedlich sie auch sind, zusammen und bauen etwas auf, dass es so nirgends auf der Welt gibt: Marine Data Science. Biastoch: „Im Austausch mit der Informatik haben schon wir Profs gemerkt: Das ist Pionierarbeit.“ Die Informatiker und Informatikerinnen hatten wenig Ahnung, was hinter den Ozeanwissenschaften eigentlich genau steckt. Die Ozeanwissenschaftler wiederum nur ungenaue, manchmal auch unrealistische Vorstellungen davon, was die Datenwissenschaften mit innovativen Methoden der KI liefern können.

Seit Juni 2019 ist die MarDATA am Start. Der Ansatz: Eine breite Ausbildung, die so unterschiedliche Studienfelder wie physikalische Ozeanographie und Meeresbiologie zusammenbindet, um die Absolventen für den gesamten Bereich der Erdsystemwissenschaften zu qualifizieren. „So steht ihnen im Berufsleben der ganze Anwendungsbereich als Arbeitsfeld offen“, erklärt MarDATA-Koordinator Enno Prigge. In Blockkursen bekommen die Doktoranden einen Überblick in die Fachwissenschaften wie Geobiochemie, Meeresbiologie oder physikalische Ozeanographie. Parallel gibt es eine umfangreiche datenwissenschaftliche Schulung: Ozeanmodellierung, Einführung in Datenbanken, Arbeit mit neuronalen Netzen oder Datenvisualisierung. „Auch die Informatiker sind nicht auf allen Feldern gleich gut ausgebildet“, sagt Prigge. Wer sich im Studium mit Datensicherheit beschäftigt hat, ist noch lange kein Profi in Machine Learning. Wer sich mit Datenbanken auskennt, ist noch lange kein Experte in komplizierter Statistik.

Mittlerweile promovieren zwei „Kohorten“ an der School im Norden. Das sind insgesamt 33 Doktoranden und Doktorandinnen, bis Ende 2022 sollen es 40 werden. Bemerkenswert: Im Gegensatz zu den fünf anderen Data Science Schools der Helmholtz-Gemeinschaft ist die Hälfte der Promovierenden weiblich. Und seit HIDA als Dachorganisation die Schools international vermarktet, hat sich die Zahl der Kandidaten verfünffacht: Bewarben sich im ersten Jahr 81 auf 20 ausgeschriebene Projektstellen, waren es im zweiten 447. Entscheidend für die Auswahl ist neben guten Noten und natürlich soliden Kenntnissen im Bereich Information & Data Science die Motivation: „Die Bereitschaft also, sich in völlig unbekanntes Terrain einzuarbeiten und mit Neugier die Meereswissenschaften zu erkunden“, wie es Biastoch formuliert. „Wir wollen dabei Kandidaten mit klarem Interesse für ein konkretes Thema.“ Das angebotene Spektrum ist breit, von Klimamodellen mit Methoden des Maschinellen Lernens über die Vorhersage der Entwicklung maritimer Ressourcen bis zur Kartierung des Meeresbodens.

Schritt-für-Schritt-Analyse statt Theoriebildung und Experiment

Helge Mohn konnte mit seiner Leidenschaft für die Atmosphärenforschung über dem Meer überzeugen. Jetzt genießt er die anregende Zusammenarbeit mit den Teams aus den Meeres- und Datenwissenschaften. „Anderswo wird Data Science oft nur als Anwendungsdisziplin betrachtet“, sagt Mohn. „Hier erkennen die Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an, dass auch unser empirisches Vorgehen wissenschaftlich ist.“ Schritt-für-Schritt-Analyse statt Theoriebildung und Experiment. Gemeinsam erkundet er nun mit seinen Betreuern aus Klimaforschung und Informatik: Welche Informationen könnte die KI noch auswerten, um die Veränderungen der Ozonschicht besser zu verstehen? Wie wäre es neben den chemischen Daten Informationen über die Intensität des Sonnenlichtes einzubeziehen, wieviel Energie also ist in der Luft zu einem Zeitpunkt verfügbar? Was verraten die Daten dann?

Die „Ypsilon-Betreuung“ ist Prinzip an der MarDATA, alle Promovierenden haben je einen Betreuer aus den Datenwissenschaften und aus der Fachwissenschaft seines Themas, die Principal Investigators (PI). Sie wählen die Kandidaten selbst aus, begleiten sie durch die dreijährige Promotionszeit und entscheiden gemeinsam, an welchem Institut der Doktorand seinen Schreibtisch hat. Im wöchentlichen Jour fixe mit Koordinator Prigge und den anderen Doktoranden ist Zeit für Nachfragen: Ich würde gerne noch einen Kurs in Modellierungsmethoden machen, gibt es da was? Bei mir gibt es Probleme mit der Datenvisualisierung, habt ihr eine Idee?

Derzeit wird auch das Netzwerk mit anderen Meereswissenschaften in aller Welt enger geknüpft, internationale Wissenschaftler sitzen im Advisory Board der Schule.

„Wenn wir ein Standbein in der Wirtschaft haben, können wir langfristig vielleicht auch gemeinsame Projekte entwickeln, zum Beispiel um Daten für eine optimal effiziente Navigation von Schiffen durch die Meere in Echtzeit zu erheben“

Enno Prigge, Koordinator MarDATA

Koordinator Enno Prigge streckt jetzt zudem die Fühler in die Maritime Wirtschaft aus. Zwar will die MarDATA in erster Linie exzellenten Nachwuchs für die Wissenschaft ausbilden, doch klar ist: Nicht alle werden einen festen Platz in der Wissenschaft finden. Und nicht jeder will die Wissenschaftskarriere mit häufigen Ortswechseln und langen Auslandsaufenthalten. „Wenn wir ein Standbein in der Wirtschaft haben, können wir langfristig vielleicht auch gemeinsame Projekte entwickeln, zum Beispiel um Daten für eine optimal effiziente Navigation von Schiffen durch die Meere in Echtzeit zu erheben“, sagt Prigge. „Unternehmen haben großes Interesse an Kooperationen.“ Schließlich ähneln sich die Anwendungsfelder, von Robotik bis zur Modellierung.

Petra Mahnke ist Geschäftsführerin und stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für Maritime Technik (GMT), die die Interessen von Unternehmen und Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der Meerestechnik vertritt. „Die Meerestechnik entwickelt, produziert und verwendet Technologien für die Erforschung, den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Meere“, sagt Mahnke. „Damit ist sie essenzieller Bestandteil der maritimen Branche.“ Es brauche mehr Forschung, mehr wissenschaftliche Daten, um den Zustand der Ozeane noch besser analysieren zu können. Wie ist der Meeresboden beschaffen? Wie sind die meteorologischen Verhältnisse über den Meeren? Wie Strömungsverhältnisse, Temperatur, Salzgehalt und Beschaffenheit der Küstenzonen oder das Verhalten der Wellen?

Satelliten, Schiffe, Offshore-Anlagen und Monitoringsystemen erheben permanent neue Daten

Solche Erkenntnisse sind elementar, damit Meere geschützt und nachhaltig genutzt werden können. Zum Beispiel, um Standorte für Offshore Windenergieanlagen zu ermitteln, Rohstoffquellen zu erschließen und Informationen über Seegebiete als Schifffahrtwege und für Unterwasserinstallationen zu erhalten. Da Satelliten, Schiffe, Offshore-Anlagen und Monitoringsystemen permanent neue Daten erheben und die ganze Branche zunehmend digitalisiert wird, entstehen neue Anwendungsfelder für meerestechnische Unternehmen. „Die Wirtschaft hat daher wachsenden Bedarf an marinen Datenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern“, so Mahnke. „Für die Analyse der Daten brauchen wir genau jene Schnittstellen-Spezialisten, die Daten valide und vergleichbar auswerten, bearbeiten und der Wirtschaft zur Verfügung stellen.“

Ein großes Event mit Unternehmen der Maritimen Wirtschaft ist bei der MarDATA schon in der Planung. Reedereien, Werften, Giganten der Schifffahrt wie Thyssen-Krupp werden dabei sein. Helge Mohn hat sich noch nicht entschieden: Wirtschaft oder Wissenschaft? „In jedem Fall möchte ich im interdisziplinären Umfeld arbeiten und technische Innovationen schaffen, die die Klimaforschung wirklich ein Stück voranbringen.“ Vielleicht sogar mal als Leiter eines Teams mit Menschen aus Natur- und Ingenieurwissenschaft. Mohn: „Letztlich ist für mich das Entscheidende: Meine Arbeit soll begeisternd und inspirierend sein.“

Autorin: Anja Dilk

Alternativ-Text

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